Die sehr geschätzte Kollegin Cordula Natusch hat mich dieser Tage einmal mehr kopfüber in den Dschungel der tausendfach verästelten Welt der Sachbücher gestürzt … Ich betone ja ständig: DAS Sachbuch gibt es einfach nicht. Da ist noch nicht mal eine klare Definition in Sicht …Und wie, bitteschön, soll ich jetzt die „besten Ratgeber und Sachbücher“ finden? Denn genau darum geht es in ihrer Blogparade #bestessachbuch2020.

Die Idee für diese Blogparade finde ich großartig. Darum habe ich mir fest vorgenommen, daran teilzunehmen, mehr noch: Ich möchte das wirklich äußerst gern! Denn es ist ja auch ungeheuer spannend zu sehen: Was nominieren andere, wo gehen die Vorlieben hin, deckt sich das mit aktuellen Sachbuchbestenlisten – oder eher nicht? Denn aktuell sollten die (maximal drei) Buchtipps durchaus sein, die wir in dieser Blogparade vorschlagen. Also: Welche drei Bücher möchte ich Lesern und Leserinnen ans Herz legen?

Ankündigung: Es werden drei Sachbuchtipps

Nach längerem Nachdenken habe ich mich für Folgendes entschieden:

  1. Der erste Sachbuchtipp muss sein, OBWOHL das Buch derzeit gut sichtbar in den Buchregalen unter „bestplatziert“ liegt. Ziemlich untypisch für mich ….
  2. Das zweite Sachbuch ist dort leider eher nicht zu finden, beschäftigt sich aber mit dem Kern der Sachbuchwelt – nämlich: Wie entstehen Sachbücher, wie sollten sie geschrieben sein, was ist wichtig?
  3. Der dritte Tipp gilt gar keinem Buch, sondern einer äußerst bemerkenswerten Frau mit sehr großer Nähe zu einer Sachbuchwelt, die mich jedesmal wieder in Begeisterung versetzt.

Erstens: die „Unsichtbaren Frauen“ von Caroline Criado-Perez

Mit der Nennung dieses Buchs entkomme ich schon mal der Sachbuch-Crux, dass sich in aller Regel die Vorlieben von Leserinnen und Lesern bei Sachbüchern – natürlich! – an eigenen beruflichen und/oder privaten Themen-Welten orientieren. In diesem Fall nicht. Denn das geht die ganze Menschheit an. Die eine Hälfte, weil sie oft gar nicht ahnt, was sie alles anrichtet, wenn sie weiterhin einfach nur die Maßstäbe des eigenen Geschlechts und dessen Lebenswelten zugrunde legt – oft nicht einmal aus explizit böser Absicht, wie die Autorin durchaus betont. Sondern, weil diese Hälfte der Menschheit schon viel zu lang die Maßstäbe für ALLE Menschen setzt. Ergebnis: Eine von Daten beherrschte Welt ignoriert die Hälfte der Menschheit. So steht es im Untertitel, darum geht es in dem Buch von Caroline Criado-Perez. Diese Daten-Beherrschung liegt natürlich weitestgehend in männlicher Verantwortung. Und es ist schrecklich.

Zur Offenlegung dieses Schreckens trägt die Autorin vor allem durch eine ungeheure Datenmenge bei: 1.331 Anmerkungen hat das Buch. Und etwa so viele Praxis-Beispiele hat sie gesammelt, um endlich einmal zu dokumentieren, wie weltweit Frauen darunter leiden, dass Männer einfach eine andere Sicht auf die Welt haben als sie. Wie wenig die Lebensrealität beider meist übereinstimmt. Und wie sich diese Diskrepanz immer weiter verfestigt – weil sie aus gewachsenen Strukturen besteht. Die nicht mal eben, aus reinem „goodwill“ geändert werden können. Dass durch diese Fakten Präsenz-, Zugangs- und Teilhabemöglichkeiten von Frauen am „normalen Leben“ ebenso klein bleiben müssen wie die Möglichkeiten des Geldverdienens, versteht sich fast von selbst – hat man einmal die Mechanismen begriffen.

Das ist das vielleicht Verrückteste an diesem Buch: Criado-Perez geht es an keiner Stelle um Schuldzuweisung, sondern „nur“ um Dokumentation. Und allein die Dokumentation ganz alltäglicher Lebensumstände von Frauen auf der ganzen Welt reicht völlig aus, um zu erklären, wie es beispielsweise dazu kommt, dass sie noch immer nachts im Dunkeln an Bushaltestellen weltweit massenweise sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind. Dass kaum jemand eine Ahnung zu haben scheint, wie es dazu kommen konnte. Und was sich dagegen tun lassen könnte. Fatal ist: Da gibt es jetzt schon so viele Löcher in den (nicht vorhandenen) Daten- und Faktensammlungen, dass die Lücken quasi täglich größer werden. Studien dazu, warum vorwiegend Frauen nachts an dunklen Haltestellen stehen? Fehlanzeige. Also auch: keine Handhabe, kein Grund, in irgendeiner Weise aktiv zu werden. Und jedes Argument bleibt das, als was alles in unserer Welt angesehen wird, was nicht auf „harten Fakten“ beruht: Spekulation, Meinung, bestenfalls goodwill, nachdem mal wieder irgendwo auf dieser Welt die Gewalt gegen Frauen allzu offensichtlich wurde.

Warum ist dieses Buch ein „Muss“ für mich?

Die Sache mit den Bushaltestellen ist nur eins von sehr vielen Beispielen/Funktionsmustern, die Criado-Perez in ihrem Buch aufzeigt. Ähnlich funktioniert das am Arbeitsplatz, bei Arztbesuchen und anderen Erfordernissen des Alltags – sogar noch beim Klavierspielen. Die Folgen kennen wir: Diese blöde „Gefühl“, dass Frauen ganz und gar nicht gleichberechtigt sind. Was sich aber immer so schrecklich schwer beweisen lässt, dass jede Gegenmaßnahme quasi schon im Keim erstickt wird … Warum sollte denn auch gehandelt werden?! Ist ja nur eine Meinung, „nur Ansichtssache“. Eben nicht! In diesem Buch lernen wir die Gründe kennen. Und darum halte ich es für SEHR wichtig.

Es ist eine ungeheure Fleißarbeit. Aus Überzeugung. Mit dem klaren Auftrag: Da muss sich doch endlich was unternehmen lassen! Etwas, das sinnvoll ist. Etwas, das langfristig und nachhaltig hilft. Meiner Ansicht nach müsste diese Faktensammlung, diese Offenlegung männlicher Denk-, Handlung- und Machtstrukturen allerorten Pflichtlektüre sein!

Das englische Original erschien 2019, die deutsche Übersetzung 2020 bei btb.

Zweitens: Wenn Expert/innen DAS Sachbuch schreiben

Meine nächste Buchkandidatin steht hier, weil sie – genauer gesagt, die Autorin und Ghostwriterin Daniela Pucher – über ihre Anleitung in zehn Schritten, ein Sachbuch zu schreiben und zu vermarkten (so der Untertitel) auch die wichtigsten Mechanismen eines klassischen Sachbuchs offenlegt. „Zur Sache, Experten“ heißt das Buch. Und ich habe hier bereits einiges darüber geschrieben.

Darum jetzt nur eben die wichtigsten Punkte, etwa: „Finde ein unwiderstehliches Thema!“, „Nutze die Kraft des Zielgruppendenkens“ und frage dich: „Ist dein Thema konkurrenzfähig?“ Was dahintersteckt, ist klar: Der Sachbuchmarkt boomt, ein als gut empfundenes Sachbuch muss sich deutlich absetzen können von jeder Konkurrenz. Es muss seine Zielgruppe kennen und „bedienen“, muss unverwechselbar sein und – sehr wichtig! – die Stimme der Autorin/des Autors muss überzeugen. Unterschreibe ich alles. Sofort und auf der Stelle. Ich finde auch: Daniela Pucher vermittelt das extrem gut, sehr entspannt/entspannend geschrieben und zu lesen, doch gleichzeitig mit unverkennbar viel Fachwissen und Tiefgang. Ja, ist ein  klarer, sehr klassischer Sachbuchtipp.

Erschienen bei Springer.

Und doch bleibe ich dabei: DAS Sachbuch gibt es nicht!

Jetzt bin ich wieder am Anfang dieses Beitrags: DAS Sachbuch gibt es immer noch nicht. Meine eigene Definition geht weit über die „klassischen Kriterien“ hinaus. Ich träume davon, eine tragfähige Definition des „erzählenden Sachbuchs“ zu entwickeln. In meinen eigenen Büchern kommt mir an dieser Stelle der Eigensinn zu Hilfe …

Erzählende Sachbücher?

Fakt ist: Es gibt nicht mal eine klare, vor allem positive Definition dessen, was ein Sachbuch eigentlich ist. Alles, was ich gefunden habe, definiert, was es NICHT ist. Erst hat mich das geärgert, mittlerweile glaube ich, das ist eine Riesenchance für alle Autorinnen und Autoren, die Wert auf eine eigene, unverwechselbare Stimme legen. Und da geht noch mehr … Sehr viel mehr sogar! Beispielsweise, wenn wir an die Gestaltungsmöglichkeiten von Sachbüchern denken! Im Vertrauen: Ich glaube, das erste „erzählende Sachbuch“ (und einer meiner absoluten Sachbuchlieblinge …) war Brehms Illustriertes Tierleben. Steht hier natürlich völlig außer Konkurrenz, denn es ist etwa 150 Jahre zu alt für diese Blogparade …

Drittens: Gestaltung von Sachbüchern

Doch es gibt eine Frau, die steht so sehr in der Tradition der wunderbarst gestalteten Sachbücher, dass sie schon lang kein Geheimtipp mehr ist. Bereits zweimal hat sie den Preis der Stiftung Buchkunst für das schönste Buch des Jahres gewonnen. Und sie ist eine „Grenzgängerin zwischen Natur und Poesie, zwischen Wissenswelten und Phantasiereichen, zwischen Zählen und Erzählen“ hieß es in der Jurybegründung, als sie 2018 den Wilhelm-Raabe-Preis gewann. Ja, für Literatur. Trotzdem bleibe ich dabei: Judith Schalansky ist für mich als Autorin wie als Herausgeberin – und natürlich als Illustratorin (denn das hat sie gelernt) – im Sachbuchbereich zu Hause.

Denn: Ein Atlas ist doch wohl ganz klar ein Sachbuch, oder etwa nicht?! 2009 hat Judith Schalansky den „Atlas der Abgelegenen Inseln“ geschrieben, illustriert und gestaltet – für mich eins der schönsten, überraschendsten (Sach-)Bücher jemals. Aber für diese Blogparade soll es ja ein bisschen aktueller sein … Also erwähne ich lieber noch, dass Judith Schalansky auch als Herausgeberin fungiert: Für die nicht minder wunderbare Reihe des Verlags Matthes & Seitz namens „Naturkunden“ – ganz klar samt und sonders Sachbücher. Etwa über Algen, Brennesseln, Kakteen, Käfer, Füchse, Habichte … Besser mal selber gucken – denn das ist mein Tipp Nummer drei.


 

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