Über den armen Sokrates ist viel, sehr viel geschrieben worden, oft recht spekulativ, ziemlich umständlich und kompliziert. Warum nenne ich ihn „arm“? Weil er das nicht verdient hat. Denn das, was er lehrte, war glasklar. Und absolut einfach. Etwa: „Rede, damit ich dich sehe!“ Oder: „Stagnation ist der Anfang vom Ende.“ Und immer wieder: „Erkenne dich selbst – dann weißt du alles.“ Für mich war er ein Meister in der Kunst des Fragens. Und das ist sowohl für Coachingprozesse wie zum Auffinden der eigenen Stimme, der eigenen Kreativität wichtig.
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„Erkenntnis“ ist immer auch Erfahrungswissen
Und wie geht Erkenntnis? So ähnlich, wie seine Mutter – die Hebamme war – das auch immer gemacht hat. Erstens hatte sie selbst schon Kinder geboren, bevor sie anderen Frauen beim Gebären half – sonst hätte sie gar nicht Hebamme werden dürfen. Da ging es also um echtes Erfahrungswissen, das war Voraussetzung. Das fand Sokrates absolut richtig, denn genauso machte er es auch. Da er keine Kinder auf die Welt bringen konnte, nannte er es eben „geistige Geburten“ – und genau das bezeichnet ja eine Erkenntnis. Nur, wer sich selbst erkannt hat, kann anderen Menschen zu Erkenntnissen verhelfen. Genau wie gute Coaches das heute tun, muss der Betreffende seine Erkenntnis selbst „gebären“. Es nützt gar nichts, wenn ihm jemand „vorsagt“, was er erkennen soll. Nicht mal, wenn dieser Jemand Sokrates heißt.
„Ich weiß gar nichts“
Zweitens setzte Sokrates nie etwas voraus. Sondern stellte erst mal alles in Frage, nach dem Motto: „Ich weiß gar nichts, darum bitte ich dich jetzt, mir zu erklären, was du weißt, wie die Welt für dich aussieht, was du für Tapferkeit hältst – und was nicht …“
Da hört die Parallele zum Coaching aber leider auch schon auf. Denn im Lauf des manchmal durchaus langen Dialogs wird Sokrates zeigen, dass er eigentlich ziemlich viel weiß. Und sein Gesprächspartner steht dann ziemlich dumm da, mitten in einem Pulk neugieriger Menschen, die sich sicher mal wieder rund um den hässlichen Philosophen mit der Stupsnase auf dem Marktplatz versammelt hat. Die Athener mochten das natürlich gar nicht – viele sagen, das sei der Grund dafür gewesen, weshalb sie ihren Marktplatz-Philosophen am Ende zum Tod verurteilt haben. Offizielle Begründung: Er habe die Götter nicht anerkannt und die Jugend verdorben.
Mut machen, Trugbilder verjagen …
Und doch gibt es ziemlich viele Berührungspunkte zwischen Sokrates und dem, was wir heute unter Coaching verstehen. Dass jeder Mensch seine Gedanken selbst „gebären“ muss, ist das eine. Dass ihm das niemand abnehmen kann, sah Sokrates ganz klar – und völlig kompromisslos. Er ging den Begriffen akribisch auf den Grund, fragte und fragte … Und machte den Menschen damit durchaus Mut. Zum Beispiel geht es ihm immer auch darum, das „Echte vom Unechten zu trennen“, Trugbilder zu erkennen und zu verjagen. Heute würde wir so etwas sagen wie: Sei – oder schreibe – authentisch! Hör auf dein Bauchgefühl, folge deinem Herzen, finde „deine Stimme“, deine Haltung! Klingt abgedroschen? Ja, vielleicht. Aber auch das wusste Sokrates schon: Wir müssen vieles zwar scheinbar neu lernen, aber: „Lernen besteht aus einem Erinnern an Informationen, die bereits seit Generationen in der Seele des Menschen wohnen.“
Mit Kreativität den eigenen Weg finden
Und obwohl Sokrates immer wieder auf die „Kunstfertigkeit“ seiner Mutter hingewiesen hat, sollte sein Vater nicht vergessen werden. Der war nämlich Bildhauer. Und sein Sohn soll dieser Kunst ebenfalls nachgegangen sein, sagen einige Quellen – auch, wenn leider keine Plastik von ihm erhalten ist. Das finde ich sehr interessant: Denn auch der Beruf eines Steinmetz‘ hat ja etwas damit zu tun, dass etwas zutage tritt, freigelegt wird … Seien es Erkenntnisse, eigene Gedanken, Lösungen, neue Wege, die eigene Stimme, eine individuelle Sprache … Auch das ist einem Coachingprozess eng verwandt. Und was mir besonders gut gefällt: Es ist kreativ. Und damit eignet sich aus meiner Sicht all das, was wir heute als die Philosophie des Sokrates kennen, hervorragend für alle Coachingprozesse. Denn da haben wir eindeutig dazu gelernt: Niemand will zum Tode verurteilt werden, kein Coach wird seine Kund/innen je bloßstellen. Wir bleiben beim „Ich weiß nicht, was du denkst. Ich habe keine Ahnung, wie du die Welt siehst – bitte erkläre sie mir!“ Und so „gebären“ die Menschen, die wir begleiten dürfen, meist ohne allzu große Schmerzen ihre eigenen Erkenntnisse. Oder schreiben – nach dem exakt gleichen Prinzip – hervorragende Bücher. Oder werden anders kreativ. So, als sei ihre Mutter eine Hebamme und ihr Vater ein Steinmetz …
Tja, und jetzt bin ich Buchhebamme
Ist klar, oder? Ich habe mich dem alten Sokrates immer schon ziemlich nah gefühlt, hab unter anderem Philosophie studiert – und helfe jetzt mit intensivem Nachfragen, Autorinnen und Autoren auf dem Weg zu eigenen Buch. Ja, ich bin die Buchhebamme! Noch Fragen?
Ach ja: Dies ist der Beginn einer Serie rund um die Kunst des Fragens. Beitrage finden Sie bei der Texthandwerkerin. Und manche auch hier, im Journal des Verlags Texthandwerk.