Gut, ich oute mich lieber gleich mal: Jahrgang 1960, versuche ich seit über 40 Jahren, mit der Arbeit an Texten Geld zu verdienen. In unterschiedlichsten Formen: mit PR-Arbeit, durch Selberschreiben, Bearbeiten, Lektorieren, meist gemeinsam mit Autorinnen und Autoren auf dem Weg zum eigenen Buch, hier in der edition texthandwerk. Und in den 1990er Jahren als freie Journalistin, unter anderem auch mit Buchbesprechungen. Nur zur Erinnerung: Damals war das Internet für den täglichen Privatgebrauch noch nicht wirklich etabliert. Amazon wurde 1994 in den USA gegründet, 1998 verkauften die Eigentümer den „ABC-Bücherdienst GmbH“, damals die führende deutsche Internetversandbuchhandlung, an Jeff Bazos. Den Rest kennen Sie selber.

Buchkritik, Literaturkritik …

Zu allem Überfluss hab ich auch noch Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert – bin also die typisch-untypische Babyboomerin, die permanent zwischen Genres, Publikationswegen und -ansprüchen, Arbeitsformen und Kommunikationsanforderungen hin- und herspringt. Mal frei, mal in Festanstellung für Verlage oder Verbände, immer auf der Suche nach sinnvoller Arbeit mit halbwegs anständiger Bezahlung. Gern abseits des schlimmsten Mainstreams … Blogging, Facebook, Twitter und Selfpublishing gehören selbstverständlich dazu, denn im Grunde sehe ich mich immer nur als Dienstleisterin für meine ganz große Liebe: das Buch.

So viel Vorrede musste sein, denn inzwischen bin ich in vielen Dingen zur Zeitzeugin geworden … einerseits eines rasanten Wandels, andererseits von Dingen, die so unglaublich neu scheinen. Es aber gar nicht sind. Buchkritik – gibts die überhaupt noch?!

Literatur-Arbeit im Wandel

Glaubt hier beispielsweise jemand, Netzwerkarbeit für Literatur gäbe es erst, seit wir das Internet dafür nutzen können? Wäre ein Irrtum.

Schon Großmeister Goethe legte in seiner Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“ größten Wert darauf, dass es äußerst wichtig sei, nicht immer nur über sich selbst, sondern auch über die Menschen zu schreiben, mit denen man sich zeit seines Lebens umgeben habe … Darunter waren auch viele andere Autoren. Da waren vor allem die Briefe, die man sich ständig gegenseitig schickte und öffentlich laut vorlas, ganz eindeutig eine frühe Form von Netzwerkarbeit.

Und als „Literaturkritiker“ trat Goethe natürlich auch auf … Wenn darauf auch nicht gerade der Schwerpunkt seiner Arbeit lag, wie der sehr gute Beitrag auf www.literaturkritik.de hier darstellt. Eine wichtige Erkenntnis daraus: „Dem alten Goethe als Anwalt der Weltliteratur war es selbstverständlich, literarische Werke auf Französisch, Italienisch und Englisch zu lesen und sie zu rezensieren, bevor sie übersetzt waren.“ Noch heute sei „ein solcher literarischer Horizont“ keine Selbstverständlichkeit – „ganz abgesehen von dem literarischen Sachverstand, über den Goethe als Autor und Kritiker verfügte.“

Autoren als Kritiker

Und um 1900 herum begannen erfolgreiche Autoren damit, sich als Kritiker eine zusätzliche Einnahmequelle zu erschließen. Um nur mal drei sehr bekannte zu nennen: Kurt Tucholsky schrieb rund 500 Buchkritiken, Erich Kästner etwa 350 und Hermann Hesse mehr als 3.000. Daraus entstanden äußerst lebhafte Netzwerke – zwischen den Autoren, die sich gegenseitig ihre Neuerscheinungen zuschickten und häufig auch rezensierten, den Verlegern (die oft auch noch auflagenstarke Literaturzeitschriften herausgaben) und natürlich den Begehrlichkeiten von Nachwuchsautoren, die die bekanntesten Kritiker mit Manuskripten und Neuerscheinungen per Post bombardierten.

Hesse beispielsweise war als „Chefkritiker“ bei mehreren Zeitungen nacheinander aktiv – und hatte fast immer das Vorschlagsrecht, was seine Nachfolger anging. Manche Kollegen hat er auf diese Weise ebenso gefördert, wie er auch stets sein eigenes Literaturverständnis allein über die Auswahl der von ihm rezensierten Bücher publik machte. Er hat sich das nicht leicht gemacht: bis zu 380 Neuerscheinungen hat er in einem Jahr gelesen. Was heute häufig vergessen wird: Er hat zwei Weltkriege miterlebt. Und hasste den deutschen Nationalismus ebenso wie jede Art der Kriegstreiberei. Da hat er sich mit aller Kraft derart positioniert, dass er lang das Etikett „Vaterlandsverräter“ nicht mehr loswurde. Das tat er vor allem über die Auswahl der von ihm rezensierten Bücher: Während des Nationalsozialismus‘ etwa schrieb er seine Rezensionen für eine schwedische Literaturzeitschrift – und darüber bekamen viele in Deutschland „verfemte“ Autoren Aufmerksamkeit.

Halten wir fest: Literaturkritik kann ein sehr wirksames Instrument sein. Wenn sie Stellung bezieht. Und: Kluge Rezensenten haben sich immer schon untereinander vernetzt. Nichts davon ist neu. Und beides gilt – meiner Ansicht nach – heute noch. Noch wichtiger ist der „literarische Sachverstand“, den Autoren als Rezensenten mit großer Sicherheit mitbringen.

Die meisten Autoren, die auch Rezensenten waren, haben aber auch nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie es nicht zuletzt auch des Geldes wegen taten: Das waren verlässlich regelmäßige Einkünfte, die man als Autor ja nun nicht immer hat.

Journalisten als Kritiker

Und dann entstand so was wie der Berufsstand „Buchkritiker“ (ja, lange Zeit tatsächlich ausschließlich Männer!) Deren wichtigstes Standbein waren über lange Zeit Zeitschriften, Zeitungen, Magazine … Und ihr „Handwerkszeug“ war vor allem journalistisch.

Ganz grob:

  • nicht von kommerziellen Interessen getragen (denn sie wurden fair und unabhängig für ihre Arbeit bezahlt!)
  • Der „Wahrheit verpflichtet“ – selbst, wenn man über lauter fiktiv Erstunkenes und Erlogenes schreibt: Die Fakten müssen stimmen!
  • Und immer unter Nennung des vollen Namens geschrieben.

Einer der berühmtesten hat immer nur über das Theater geschrieben: Alfred Kerr (1867-1948). Für ihn war Kritik eine eigene Kunstform. Tatsächlich hat er einen ganz eigenen Rezensions-Stil entwickelt: Den ganzen Text durchnummeriert von I bis X, lakonisch kurz, gern sarkastisch zugespitzt. Nur als kleines Beispiel: Die Zusammenfassung eines Theaterstücks von Max Dreyer liest sich bei ihm so: „Ein Weiberfeind ist früher unglücklich verlobt gewesen. Das soll den Grund bilden für Abneigung wider Frauen. Ein Spiel für Kinder. Nichts aus der Erfahrung. Hanebüchen und eintönig gepoltert, im Ton von: ‚o diese Weiber‘!“ Quelle Alfred Kerr, zitiert nach der (leider miserabel) von Google eingescannten Version seiner Rezensionen hier.

(Un-)Freiheit von Literaturkritik

Keine Frage: Alfred Kerr war einer der ersten „Superstars“ unter den journalistischen Kritikern. So was gibt es heute kaum noch. Selbst, wenn die Preisträgerin des Alfred-Kerr-Preises 2019, Marie Schmidt (seit 2018 Literaturredakteurin bei der Süddeutschen Zeitung), vor kurzem in ihrer Leipziger Dankesrede ein richtig großes Wort bemühte: Literarturkritik könne ihre Bedeutung nur dann behalten, „wenn sie auf ihrer Freiheit gegenüber den Spezialmaßstäben der Anderen“ bestehe.

Freiheit! Ein großes Wort!

Und: welche Wertungsmaßstäbe – „speziell“ oder nicht – denn überhaupt? Für Literatur gibt es solche Maßstäbe gar nicht. Gab es noch nie – auch, wenn sie jedes Jahr wieder neu vermisst werden … Denn jedes Buch, jedes Leseerlebnis, jede Buchkritik ist individuell. Anders. Oder sollte es zumindest sein.

Das hat auch die „Literaturkritikerin des Jahres“ 2019 klar erkannt: „„Was wir kultivieren sollten, ist ein aufregendes, chaotisches, lebendiges Lesen.“ Und: „Ich darf mir Kunst und Literatur und Welt aus verschiedenen Gesichtspunkten erklären, die sich womöglich sogar widersprechen und konkurrieren, das ist das Versprechen der Kritik.“ Ja. Klingt gut. Und gehört zu den Freiheiten einer fest angestellten Literaturkritikerin. Doch wie real ist das?!

Wandel eines ganzen Berufsstands

Wie viele Menschen gibt es denn noch, die allein von Literaturkritik – als Beruf – leben können?! Marie Schmidt gehört da heute zu den großen Ausnahmen. Andere „Literaturkritiker/innen“ müssen viele verschiedene Jobs mixen, um überleben zu können: Übersetzer/in, Entertainer, Moderatorinnen, akademische Karrieren und vieles mehr.

Die Realität ist meiner Ansicht nach: DIE Literaturkritik gibt es gar nicht mehr. Aus vielerlei Gründen. Was es dagegen gibt, sind haufenweise schlecht bis gar nicht durchdachte Buchbewertungen …

Daran ist nicht amazon „schuld“. Die Amerikaner haben da ganz einfach nur eine Lücke okkupiert, die vor allem die Zeitungsverleger in Deutschland geschaffen haben … Mehr dazu habe ich auch in einem Gastkommentar bei Ruprecht Frieling geschrieben.

Und ganz sicher sind erst recht nicht die Buchbloggerinnen und Buchblogger daran „schuld“ – ganz im Gegenteil! Viele von ihnen wollen nicht mal kostenlose Rezensionexemplare aus den großen Verlagen haben – weil sie fürchten, damit ihre Unabhängigkeit zu verlieren. Sie tun das, was da tun, oft wirklich aus reinem Idealismus (noch! Warten wir mal das neue Urheberrechtsgesetz ab …) Gerade Blogger/innen produzieren für die Buchkritik unschätzbar Wichtiges:

  • Sie helfen in der Flut der Buchneuerscheinungen Leser/innen beim Einsortieren, bieten Anhaltspunkte und Überblick
  • Definieren sich oft über „Nischen“, schaffen ein Publikum, halten Zielgruppen im Blick, liefern Stoff und Argumente für eine lebendige Diskussion über Bücher, Inhalte, Buchkultur. Und nicht zuletzt über im Selfpublishing erschienene Titel. Die haben nämlich in der „Buchkritik“ noch lang keine „Heimat“ gefunden …
  • Führen oft sehr lebhafte Diskussionen mit Leserinnen und Lesern – ein zeitraubender Job, den die meisten Zeitungsverlage nicht (mehr) hinkriegen (wollen).

All das wird eben NICHT ersetzt durch die bloße „Buchbewertung“ mit Sternchen und/oder Daumen hoch/Daumen runter. Zumal da längst ganz andere, hochkommerzielle Interessen dahinterstecken, wie Stephanie Vonwiller hier recherchiert hat.

Der einzige Wermutstropfen bei der neuen Form bloggender, privater Buchkritik ist das, was Goethe, Hesse, Kerr und Co.noch ausgezeichnet hat: der “ literarische Sachverstand“. Das ist kein Vorwurf. Denn ich glaube: Den kann heute kein Mensch mehr – auch noch genreübergreifend – wirklich haben. Das geben viele Menschen, die sich hauptberuflich mit Literatur beschäftigen, auch unumwunden zu.

Neue Wege: Wandel stabilisieren

Was also bleibt, was können wir tun? Wie können wir diesen Wandel sinnvoll gestalten?

  1. Sollten wir endlich damit aufhören, die „professionelle Buchkritik“ gegen das Buchblogging ausspielen zu wollen! Das ist ein Vergleich zwischen Birnen und  Apfelkernen! Die einen werden dafür bezahlt, die anderen nicht. Die einen tun es von Berufs wegen, die anderen aus Idealismus, Aus Spaß an der Sache, weil sie selbst schreiben (wollen), weil sie Bücher lieben … Die einen haben eher abstrakte Maßstäbe im Kopf, die anderen nur ihre eigenen Vorlieben. Was sie aber eint, ist immer: Beide urteilen subjektiv. Das zu akzeptieren, wäre meiner Ansicht nach schon mal ein guter erster Schritt.
  2. Bitte nicht mehr „Buchbewertung“ (also auf amazon und Co.) mit Buchrezensionen verwechseln! Ersteres fällt unter Marketing, bildet Verkaufsargumente. Die Buchrezension schafft im Idealfall einen Meinungsaustausch über Bücher, hilft bestimmten Zielgruppen bei der Orientierung in der Flut der Neuerscheinungen.
  3. Kein Fehler ist es, sich an ein paar (journalistische) Standards beim Schreiben einer Buchrezension zu erinnern. Ruprecht Frieling war wie ich auch lang als Journalist unterwegs. Beide haben wir ziemlich viel Lese-Erfahrung, denn wir sind ausgewiesene Büchernarren … Er hat hier ein paar Vorschläge zum Schreiben von Rezensionen formuliert, ich hier.

Fazit

Die gute Nachricht ist: Das Interesse an Büchern ist noch immer da. Es gibt weiterhin nicht wenig Büchernarren, Vielleser/innen, Selber-Schreiber, Selbst-Denkerinnen. Die sich ihre Freiheit erhalten wollen. Das macht Mut.

Jetzt kommt es vor allem darauf an, diesen Mut, diese Freiheit zu erhalten. Und uns weder von großen Verkaufsplattformen als „kritische Masse“ des Buchmarketing verheizen zu lassen, noch uns traurig in eine Ecke zu setzen, weil es „das große Feuilleton“ nicht mehr gibt … Wir können aktiv werden, uns weiterbilden, journalistisch schreiben … Und: die Buchkritik muss unabhängig bleiben.

Die Verdienstmöglichkeit als „Buchkritiker/in“ wie ich sie vor 20 Jahren noch hatte, wird wohl kaum wiederkommen, Doch wir können uns statt Geld Sichtbarkeit, Positionierung, Diskussionen, Gemeinschaft und öffentlichen Spaß mit und an Büchern „verdienen“. Wir können uns positionieren, Auswahl schaffen, Entdeckungen auf den Weg bringen … Doch: Wir können eine ganze Menge tun!

Hier jedenfalls mal ein ganz dickes Dankeschön an alle Buchbloggerinnen und Buchblogger, die so beherzt ihre ganz eigene Kultur der Bücherliebe weiterführen! Lasst euch bitte nie vereinnahmen, bleibt offen, unbestechlich – und subjektiv! Denn nur so kann meiner Ansicht nach auch die „Bücherwelt“ weiterhin DAS Abenteuer bleiben, das sie immer war …

In eigener Sache

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Die Trilogie des Eigensinns besteht bislang aus zwei Büchern – die sich ohne Probleme auch wunderbar getrennt voneinander lesen lassen. Macht durchaus Sinn, denn sie bilden zwar eine „Familie“, haben aber unterschiedliche Schwerpunkte. In „Mein Kompass ist der Eigensinn“ geht es darum, wie wir Eigensinn erkennen, ihn für uns entwickeln können. Aber auch darum, wo er seine Grundlagen hat, welche Vorbilder ich gefunden habe – und wie er uns helfen kann. Als Kompass zum Beispiel. Oder beim Schreiben von (eigenen) Büchern.
In „Wer schreibt, darf eigensinnig sein“ steht eigentlich schon alles Wichtige im Titel: Es geht um die praktische Realisierung des Schreibens mit Eigensinn, um Kreativität, aber auch um Selfpublishing. Da gibt es jede Menge Praxistipps, Übungen und Beispiele. Aber auch die Spiellust – meiner Ansicht nach ein wichtiges Schreib-Instrument – kommt nicht zu kurz. Zum Beispiel mit dem Selbsttest „Welcher Schreibtyp bin ich eigentlich?“ Der zieht sich – augenzwinkernd bis ernst – durch das ganze Buch.
Beide Bücher auf einen Blick – und auch zum Bestellen – im Shop der Autorenwelt hier. Aber natürlich auch überall sonst, wo es Bücher gibt.


 

 

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