Eine Besonderheit an der Situation von Kriegsenkel:innen ist, dass sie jahrzehntelang mit dem Schweigen ihrer Eltern klarkommen mussten, sich darum nicht selten auch als „Nebelkinder“ sahen: „Der Nebel, mit dem ich das Klima umschrieb, in dem wir aufwuchsen, ist letztlich ein Produkt der Angst. Der Angst nämlich davor, selbst verschlungen zu werden, wenn man sich den Schrecken der eigenen Geschichte stellt. ‚Nebel‘ bedeutet zugleich Schutz und Hemmnis“, schreibt der 1961 geborene Theologe, Autor und Herausgeber Joachim Süss in dem Buch „Nebelkinder“, einer Anthologie mit dem Untertitel „Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte“, das er gemeinsam mit Michael Schneider herausgegeben hat.

Wie ist das „Thema Kriegsenkel entstanden, wie wird es wahrgenommen?

Das Thema „Kriegsenkel“ beginnt gerade erst, das Bewusstsein der Menschen zu erobern – übrigens auch mit mehreren Filmen, die sich damit beschäftigen. Wann begann dieser Boom? Das fragt sich auch Michael Schneider in der genannten Anthologie, als er überlegt, wer den „Gattungsbegriff Kriegsenkel“ denn eingeführt habe. Klar ist: 2004 erregte die Journalistin und Autorin Sabine Bode (geboren 1947) mit ihrem Buch über die „Kriegskinder“ erstmals Aufsehen, wenig später beschäftigte sie sich ebenfalls mit den „Kriegsenkeln“. Eine der ersten, die das Thema ganz persönlich, ausdrücklich eigensinnig subjektiv, belletristisch und biografisch aufgriff, war die 1970 geborene Sozialphilosophin, Psychologin und Autorin Katharina Ohana mit ihrem 2006 erschienenen „literarischen Lebensbericht“ unter dem Titel „Ich, Rabentochter“. Das Buch polarisierte stark.

Kein Wunder. Wie noch heute häufig, versteht und verstand die Generation der „Kriegskinder“ nur langsam, was ihre Kinder da eigentlich umtreibt: „Ihr hattet doch alles, euch ging es doch gut! Emotionale Wärme, psychische Nähe, Vertrauen, Unterstützung – wer braucht denn so was?“ Doch genau dieses Fehlen von Nähe und Emotionen plus der Tatsache, dass viele Kriegsenkel jahrzehntelang hofften, ihre traumatisierten Eltern durch möglichst große Loyalität ‚heilen‘ zu können, dabei aber völlig den Blick auf die eigenen Bedürfnisse vergaßen, selten ein eigenes, stabiles emotionales Gleichgewicht entwickelten – das alles macht es so wichtig, dass die Kriegsenkel damit beginnen, ihr viel zu lang andauerndes Schweigen endlich zu brechen. Je mehr Menschen anderer Generationen von all dem „Nebel“ erfahren, desto mehr wächst auch das Verständnis füreinander. Und zwar auch noch für nachfolgende Generationen.

Eigensinn als Grundhaltung

In diesem Fall gehört der Prozess des Schreibens natürlich klar in den Bereich der biografischen Arbeit – und Eigensinn kann da allenfalls einer unter mehreren Bausteinen sein: zu langwierig, schmerzlich und aufwühlend ist dieser Prozess in aller Regel, als dass er ohne psychologische Hilfe/Begleitung absolviert werden könnte. Und doch: Ich denke, als Grundhaltung kann der Eigensinn auch dabei gute Dienste leisten.

Das betont beispielsweise die 1964 geborene Schauspielerin, Coach und Autorin Maria Bachmann deutlich. Von ihr stammt das vorläufig jüngste Buch in der Reihe von Kriegsenkel-Erinnerungen: 2019 erschien von ihr „Du weißt ja gar nicht, wie gut Du es hast. Von einer, die ausbrach, das Leben zu lieben.“ Darin schreibt sie unter anderem über ihre Generation: „Was für jeden [von uns] zählt, ist die gefühlte Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, wie wir sie erinnern. Sie ist es, die unsere Gegenwart und unsere Zukunft beeinflusst.“ Ich finde diesen Gedanken extrem wichtig, betont er doch die Notwendigkeit subjektiven Erinnerns. Keine historische Betrachtung kann das jemals leisten. Auf den eigenen, ja: den eigensinnigen Blick kommt es an.

Auch Kathleen Battke (geboren 1959) und ihr Partner Thomas Bebiolka (geboren 1957) beschäftigen sich schon länger mit dem Erbe der Kriegsenkel. Und zwar vor allem in Form spezieller Schreibwerkstätten für eben diese Zielgruppe. In ihrem Aufsatz in der oben genannten Anthologie „Nebelkinder“ zitieren sie eine Teilnehmerin ihrer Schreibwerkstatt auf die Frage nach dem „Gewinn durch das Schreiben“: „Versöhnung und Frieden mit meiner eigenen Geschichte haben mich lebendig gemacht.“ So oder so ähnlich würden das vermutlich viele andere unterschreiben, die den – oft extrem mühsamen – Weg des Niederschreibens ihrer eigenen Kriegsenkel-Geschichte gegangen sind.

Kriegsenkel schreiben

Der springende Punkt für mich ist dabei: Um sich auf diesen Weg machen zu können, muss der Eigensinn Ausgangspunkt, Anlass, Motivation sein. Nur durch die jeweils völlig subjektive, EIGENE Brille können wir in einem ersten Blick selbst erkennen, nicht selten schmerzhaft erleben, wo unser Weg uns hinführen will. Denn es geht in diesem Fall um viel: oft genug um die Überwindung eines veritablen Traumas. Und da gilt ganz klar: Wenn wir uns entwickeln, schwierige, krankmachende Faktoren überwinden wollen, müssen wir selbst aktiv werden. Gelingen kann das erst, wenn jeder Kriegsenkel, jede Kriegsenkelin für sich geklärt hat: Was hat mich, was hat meine Familie geprägt? Natürlich liegen diesen Fragen gesellschaftliche Faktoren zugrunde. Wer die allerdings pauschal, passiv-distanziert in den Blick nimmt, kommt nie auf die Spur seines eigenen Lebens, kann nicht aktiv werden, bleibt im Diffusen, meist in einer passiv-schweigenden Haltung. Und das ist ja genau das, was fast allen Kriegsenkeln zum Verhängnis wurde: Was im Nebel des Schweigens liegt und liegen bleibt, wird früher oder später bedrohlich, macht fast unweigerlich krank. Und kann vor allem nicht aktiv bearbeitet, entwickelt, kreativ und/oder lebendig gemacht werden.

Die Kraft des Eigensinns

Darum ist aus meiner Sicht gerade die Literatur der Kriegsenkel ein klarer Beweis für die Kraft des Eigensinns. Schließlich mussten sich vor allem die ersten Autorinnen und Autoren dieser sehr speziellen, überaus wichtigen Literatur gegen Unverständnis, nicht selten gegen handfeste Anfeindungen durchsetzen. Sie taten ganz klar etwas, das ‚man nicht tut‘, waren nicht länger ‚loyal‘ im Schweigen über die schmerzhaften Erlebnisse ihrer Eltern. Und haben es dennoch getan, sind wirklich Wege gegangen, die niemand vorher betreten hat. Sie konnten es tun, weil sie eine ‚Mission‘ hatten, weil ihnen das Thema unter den Nägeln brannte. Sie MUSSTEN einfach darüber schreiben. Nur so konnten sie ihren eigenen Sinn finden. Und haben gleichzeitig vielen anderen Menschen damit geholfen, haben mögliche Wege zu ‚Heilung‘ und Versöhnung aufgezeigt.

Das gleiche gilt natürlich für Filme, Bildende Kunst und andere kreative Wege, die das Thema ins öffentliche Bewusstsein gebracht haben. Denn: Das Thema braucht dringend Öffentlichkeit, Austausch, Dialog, Kommunikation.

„Mein Kompass ist der Eigensinn“

Den ganzen Text bis hierhin habe ich schamlos bei mir selbst geklaut … Er ist ein Auszug aus meinem Band eins der Trilogie des Eigensinns. Titel: Mein Kompass ist der Eigensinn. Die Textpassagen stehen da ziemlich weit hinten. Denn vorher beschäftige ich mit erst einmal mit anderen Dingen. Etwa den Fragen: Was ist eigentlich Eigensinn – und was nicht? Wie unterscheidet er sich von scheinbar ähnlichen Begriffen, etwa der Exzentrik? Warum hat er so einen schlechten Ruf – und hat er das verdient? Das alles breche ich auf meine Hauptfrage herunter: Wobei kann uns der Eigensinn eigentlich helfen? Für mich liegt auf der Hand: Er kann uns wunderbar beim Schreiben helfen. Aber auch bei vielen anderen Dingen.

Eigenes Buchprojekt im Sinn?

Übrigens: Wenn Sie Rat und Tat bei der Umsetzung eines Buchprojekts brauchen: Auch ich kann Ihnen helfen! Ich bin spezialisiert auf alle Themen rund um das biografische Erzählen, bin als Systemische Coach ausgebildet und biete auch Schreibcoaching an, habe schon viele Autorinnen und Autoren im Selfpublishing wie bei Verlagsveröffentlichungen begleitet, bin Germanistin und Lektorin … Suchen Sie sich einfach die Bereiche aus, die Sie gebrauchen können!

Was bisher schon erschienen ist, sehen Sie auf einen Blick hier.

Und mehr über mich finden Sie beispielsweise hier. 


Beitragsbild erstellt mit Hilfe von: https://photofunia.com/de/

Text: Maria Al-Mana


 

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